Kapitel 28
Als Juans Stute mit ihrer wertvollen Last endlich auf den Hof trabte, hatte Adelaide alles vorbereitet, was sie für wichtig erachtet hatte, um Gideons Schusswunde zu versorgen. Sie hatte zwei Decken über den Küchentisch gebreitet und sie mit einem Wachstuch bedeckt. Zusammengerollte Bandagen lagen auf einem zweiten Tisch, daneben standen Flaschen mit hochprozentigem Alkohol. Außerdem hatte sie Nadel und Faden, eine Schere und jedes Medikament bereitgestellt, das sie im Haus hatte finden können. In einem Topf auf dem Herd kochte Wasser.
Die Küchentür flog krachend auf, als Juan und James Gideon in den Raum schleppten. Sie hatten seine Arme über ihre Schultern gelegt und hielten seine Handgelenke, damit er nicht zu Boden glitt. Adelaides Herz brach bei diesem Anblick. Gideon war immer so stark und lebendig gewesen, ein Mann, der sich um die Menschen in seiner Nähe kümmerte und immer ein Lächeln auf den Lippen trug. Jetzt war sein Gesicht schmerzverzerrt und sein Körper war so schwach, dass er nicht einmal das eigene Gewicht tragen konnte.
Adelaide eilte zu ihnen. „Legen Sie ihn auf den Tisch.“ Sie nahm vorsichtig seine Füße und half den Männern, ihn auf der Tischplatte abzulegen.
„War es Petchey?“, fragte James.
Gideon rollte den Kopf langsam von einer Seite auf die andere. „Nein. Es war Jo–“ Seine Augen flogen zu Adelaide und dann wieder zu James. „Ein angeheuerter Mörder.“
Sie hob verwirrt die Augenbrauen. Warum versuchte er, etwas vor ihr zu verbergen. Nun, das war vorerst unwichtig. Ihr war es wichtiger, sich um die Verletzung zu kümmern, als zu erfahren, wer es getan hatte.
„Ich habe ihn auch erwischt.“ Gideon sprach mit zusammengepressten Zähnen. „Geflohen … mit verletztem Arm … Kommt nicht wieder.“
„Wenigstens eine Sache, um die wir uns im Moment keine Sorgen machen müssen. Ich hole den Arzt.“
James wandte sich um, doch Gideon ergriff seinen Arm. „Nein. Brauch dich … hier. Juan reitet.“
James sah ihn finster an, nickte dann aber.
„Nehmen Sie Saba“, rief Adelaide ihm hinterher. „Sie ist ausgeruht und schnell. Sie wird bis zur Stadt galoppieren.“
„Gracias.“
Ein weiterer Gedanke ließ sie erstarren. Sie brauchte James hier, um ihr bei Gideon zu helfen, doch dann war niemand draußen, um sie zu bewachen. Der verletzte Schütze mochte zwar keine Gefahr mehr darstellen, Petchey aber umso mehr. Was, wenn er einen weiteren Angriff auf Gideon geplant hatte? Sie brauchten Schutz.
„Juan?“, rief Adelaide aus der Tür hinaus.
„Sí?“ Er wandte sich um.
„Wenn Miguel noch auf Patrouille ist, schicken Sie ihn bitte her. Er muss Wache halten, während James mir mit Mr Westcott hilft.“
Er nickte und verschwand im Stall.
Adelaide wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Gideon zu. Die Menge an Blut, mit der Juans Hemd sich mittlerweile vollgesogen hatte, ließ ihre Knie schwanken. Sie sah sich um. Außer ihr war nur noch James im Raum, der sie erwartungsvoll ansah.
Mrs Garrett hatte das Abendessen zu Mrs Chalmers und Isabella hinaufgebracht, bevor die Männer Gideon hereingetragen hatten. Sie hatte mit kalkweißem Gesicht zu verstehen gegeben, dass sie zwar ohne Probleme ein Huhn schlachten konnte, den Anblick von menschlichem Blut aber nicht ertragen konnte. Chalmers war draußen auf der Veranda und ersetzte James als Wachposten, wodurch jedoch das Grundstück größtenteils unbewacht blieb.
Gideons Leben lag nun in ihren unerfahrenen Händen. Bis der Arzt kam, stand sie zwischen ihm und seinem Tod. Was, wenn sie ihn nicht retten konnte?
„Gott, schenk mir Weisheit und heilende Hände.“ Sie murmelte das Gebet leise, doch so laut, dass James sie hörte.
„Jetzt ist nicht der Augenblick, um Ihre Sturheit aufzugeben, Adelaide. Sie schaffen das.“
Sie starrte ihn einen Augenblick lang an und wollte ihm so sehr glauben. „Gut.“ Sie sah wieder auf ihren Patienten hinab. „Erst einmal müssen wir ihn aus seinem Hemd bekommen.“ Hitze stieg in ihre Wangen, doch jetzt war nicht der richtige Augenblick für Schüchternheit.
Adelaide wusste nicht viel über die Behandlung von Wunden, aber während sie in Boston gewohnt hatte, hatte sie ihre Tante häufig bei Besuchen im Krankenhaus begleitet. Sie hatte nicht viel mehr getan, als den Patienten die Hand zu halten, doch sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie sehr die Krankenschwestern immer auf Sauberkeit bedacht gewesen waren. Alles, was mit dem Patienten in Berührung gekommen war, hatte sauber sein müssen – Bandagen, Bettwäsche, sogar der Raum selbst. Es musste irgendetwas mit dieser Keimtheorie zu tun gehabt haben. Die Krankenschwestern waren überzeugt gewesen, dass Sauberkeit das Infektionsrisiko minimierte und dem Patienten bei der Heilung half.
Adelaide nahm sich vor, auch auszukochen, was Gideons Körper berührte, bis der Arzt aus Menardville eintraf. Und wenn sie ihre Zimperlichkeit überwand, würde sie auch seine Wunde reinigen können.
James hob vorsichtig Gideons Oberkörper an. Adelaide beeilte sich, ihm das blaue Hemd auszuziehen. Die Adern an Gideons Hals traten hervor, als er ein Stöhnen unterdrückte. Sobald sie das Hemd auf den Boden geworfen hatte, legte James Gideon sanft wieder hin. Adelaide war erleichtert, dass sich sein Gesicht ein wenig entspannte. Vorsichtig hob sie den Verband an und untersuchte die Wunde. Gideon stöhnte leise.
Adelaide ließ erschrocken das Hemd los.
„Entschuldigung.“ Mit ihrer Berührung verursachte sie offenbar nur noch größere Qualen. Vielleicht sollte sie einfach auf den Arzt warten? Aber was war, wenn ihr Handeln eine Infektion verhindern konnte? Was, wenn sie die Wahrscheinlichkeit, dass er überlebte, dadurch bessern konnte?
Sie holte tief Luft und hob den Verband noch einmal an. Gideon umklammerte die Tischkante, bis seine Knöchel weiß wurden. Tränen traten ihr in die Augen, doch sie blinzelte sie zurück. Sie musste sichergehen, dass die Blutung aufgehört hatte. Eine Menge Blut war auf seiner Haut und der Kleidung getrocknet, doch sie konnte kein ganz frisches entdecken. Aber wie sollte sie den Verband lösen, ohne die Wunde wieder aufzureißen?
„Was die Wunde betrifft, kann ich nicht viel machen, aber wenn er die Kugel überlebt, soll er nicht an einer Infektion sterben. Wir müssen den Schmutz wegwischen.“
„Sagen Sie mir einfach, was ich machen soll“, sagte James.
„Nehmen Sie heißes Wasser und schütten Sie es in eine Schüssel. Mischen Sie es mit so wenig kaltem Wasser, dass Sie sich gerade so nicht die Haut verbrennen. Dann waschen Sie sich gründlich die Arme bis zu den Ellbogen. Ich mache das Gleiche, sobald ich ein paar Schwämme geholt habe.“
Adelaide knöpfte ihre Ärmel auf und rollte sie hoch, während sie an den Besenschrank trat. Hastig suchte sie nach Schwämmen, die unbenutzt und neu aussahen.
Gott würde sie leiten. Das würde er. Sie musste einfach nur ihre Angst überwinden und sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Sie musste das tun, was sie konnte, und den Rest Gott überlassen.
Als sie zwei Schwämme gefunden hatte, hob sie tapfer das Kinn und wandte sich wieder zum Tisch um.
„Addie?“ Gideons raue Stimme schnitt ihr ins Herz. Er war so still gewesen, dass sie gedacht hatte, er hätte das Bewusstsein verloren.
Sie beugte sich zu ihm. „Ja?“
Seine schokoladenbraunen Augen sahen sie flehend an.
„Kümmer dich … um Bella.“
„Du weißt, dass ich es tun werde.“ Eine kalte Hand griff nach ihrem Hals und umklammerte ihn. „Aber jetzt kümmere ich mich erst einmal um dich.“
Hoffnung war die einzige Waffe, die sie noch hatte, und sie würde sie nicht loslassen. Sie strich ihm die Haare aus dem Gesicht und küsste ihn sanft auf die Stirn. Dann wusch sie sich die Hände und Arme und machte sich gemeinsam mit James daran, Gideons Oberkörper zu reinigen. Mit einer Schere schnitt sie so viel von Juans provisorischem Hemd-Verband ab, wie sie sich traute. Das Taschentuch, das direkt auf der Wunde lag, ließ sie in Ruhe.
„Wir sollten vielleicht nach einer Austrittswunde schauen“, schlug James vor.
Adelaide starrte ihn überrascht an. „Daran habe ich gar nicht gedacht.“ Sie sah zu Gideon, der jetzt unbeweglich auf dem Tisch lag. „Es tut ihm so weh, wenn wir ihn hochheben.“ Sie biss sich auf die Lippe, als sie ihre Möglichkeiten erwog. „Vielleicht ist es nicht so schmerzhaft, wenn wir ihn auf die Seite rollen.“
James nickte. „Lassen Sie es uns versuchen.“
Adelaide beugte sich wieder zu Gideon hinab und sagte laut und deutlich: „Gideon, bist du wach?“
Er grunzte zur Antwort und nickte einmal kaum sichtbar.
„Wir rollen dich auf die Seite.“
James fasste an Gideons rechte Schulter und Hüfte. Gideon biss die Zähne zusammen.
„Eins … zwei … drei!“
James griff zu und Adelaide half ihm, indem sie Gideons Rücken so vorsichtig wie möglich anhob. Als Gideon auf der Seite lag, fing Adelaide sofort an, seinen Rücken zu säubern. An einigen Stellen befand sich getrocknetes Blut, an dem die Reste des Verbandes festklebten. Adelaide zog vorsichtig daran, bis der Verband abfiel. Nur an einer Stelle löste er sich nicht. Adelaide begann, den Verband mit ein paar Tropfen Wasser einzuweichen. Sie musste mit dem Schwamm mehrmals leicht darauftippen, doch schließlich konnte sie ihn abnehmen.
Ein Loch von der Größe ihres Fingers kam an Gideons Rücken zum Vorschein. Adelaide ignorierte das Rumoren in ihrem Magen. Ein frischer Blutstropfen rann über seine Haut. Adelaide verfolgte ihn mit den Augen und spürte, wie ihr plötzlich sehr schwindelig wurde. Schnell wischte sie die Blutspur weg und atmete mehrmals tief ein, bis sich der Schwindel gelegt hatte.
„Also, die gute Nachricht ist, dass die Kugel nicht mehr in dir drinsteckt“, verkündete Adelaide mit leicht zitternder Stimme. „Die schlechte Nachricht lautet, dass wir dich jetzt an zwei Stellen desinfizieren müssen.“
„Mach … es einfach“, stöhnte Gideon.
Adelaides Hand schloss sich um den Hals der Whiskeyflasche. Sie zog den Korken heraus und kräuselte die Nase bei dem scharfen Geruch, der ihr entgegenschlug. Sie atmete durch den Mund ein und trat zurück an den Tisch. Mit einer geflüsterten Entschuldigung fing sie an, Gideon den Alkohol über den Rücken und damit über die Austrittswunde zu schütten.
Die Muskeln in seinem Körper verkrampften sich, als sein gequälter Schrei den Raum erfüllte. Die Tränen stiegen Adelaide in die Augen, als sie sich eine frische Bandage nahm, die sie zu einer Kompresse zusammenlegte. Sie nickte James zu, der Gideon vorsichtig wieder auf den Rücken drehte, während Adelaide die Kompresse auf die Wunde presste.
Die gleiche Prozedur vollzog Adelaide nun an der Wunde an Gideons Bauch. Als sie den eingetrockneten Verband eingeweicht und abgelöst, die Wunde von Schmutz gereinigt und anschließend mit Alkohol übergossen hatte, hätte sie am liebsten zusammen mit Gideon geschrien.
Irgendwann während der Behandlung musste Miguel gekommen sein, um die Wache zu übernehmen, denn als Adelaide nach einer Weile aufsah, stand Chalmers mit tränenfeuchten Augen in der Ecke und betrachtete seinen Arbeitgeber angstvoll.
Adelaide wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. „Wie lange, bis der Arzt kommt?“
Er trat einen Schritt näher und räusperte sich. „Mindestens eine Stunde, wenn nicht sogar länger, Miss.“
Mehr als eine Stunde? Es fühlte sich schon wie eine Ewigkeit an, dass Gideon hier lag. Adelaide hielt sich an der Tischkante fest, als ihre Beine plötzlich unter ihr nachzugeben drohten.
„Das ist eine lange Zeit.“ Sie starrte Gideon an und nahm jedes Detail seiner schmerzverzerrten Züge wahr. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, seine Muskeln waren vor Schmerzen angespannt. Sie hätte lieber in einem Schlangennest gestanden, als ihm erneut wehzutun, doch es half alles nichts. „Ich fürchte, wir müssen ihn wieder verbinden. Er kann keinen weiteren Blutverlust ertragen.“
Adelaide seufzte und winkte Chalmers heran. „Waschen Sie sich gründlich die Hände und dann helfen Sie uns. Wir müssen schnell sein und arbeiten, ohne ihn zu sehr zu bewegen.“ Sie nahm sich eine weitere Bandage. „Sie beide greifen unter die Arme und heben ihn ganz leicht an. Und machen Sie ganz langsam, damit die Wunden nicht wieder aufreißen.“
Gideon murmelte leise vor sich hin. Adelaide hatte das Gefühl, dass er ihren Namen genannt hatte.
„Es tut mir leid, Gideon.“ Sie streichelte sanft seine Wange und wünschte sich, sie könnte ihm die Schmerzen abnehmen. „Ich verspreche dir, dass es das letzte Mal ist, dass wir dich bewegen. Dann lassen wir dich in Ruhe, bis der Arzt kommt.“
„Addie …“ Er öffnete seine Augen und schaute zu ihr auf.
„Ja?“
Langsam blinzelte er, sodass Adelaide befürchtete, er würde ohnmächtig werden, doch dann öffnete er die Augen wieder.
„Ich liebe dich.“
Adelaide erstarrte. Doch innerlich jubelte ihr Herz voller Glück. Obwohl sie es sich so sehr gewünscht hatte, diese Worte zu hören, konnte sie nicht glauben, dass er sie ausgesprochen hatte. Beinahe hätte sie gefragt, ob er sie noch einmal wiederholen könne, doch seine Augen schlossen sich wieder.
Sein Geständnis löste große Freude in ihr aus, doch die Freude war bittersüß. Denn wenn sie ihn heute verlor, wäre die Lücke, die er in ihr Herz riss, umso größer. Aber darum ging es jetzt nicht. Er verdiente das Beste, was sie geben konnte, und sie würde es ihm geben.
Unsicher, ob er sie überhaupt noch hören konnte, beugte Adelaide sich dicht an sein Ohr. „Ich liebe dich auch, Gideon.“ Ihre Lippen hauchten einen Kuss auf seine Wange.
Chalmers und James wandten sich in dem Moment ab, in dem Adelaide sich wieder aufrichtete, jedoch nicht schnell genug, um das Mitleid in ihren Augen zu verbergen. Adelaide streckte sich und hob ihr Kinn. Sie brauchte ihr Mitleid nicht. Sie brauchte ihre Hilfe, damit es Gideon bald wieder besser ging. Sie räusperte sich energisch und konzentrierte sich wieder auf ihre Aufgabe.
„Fertig, Gentlemen?“
Adelaide rollte den Verband so auf, dass sie ihn zügig um Gideons Taille wickeln konnte, und die beiden Männer hoben ihn vorsichtig an. Wieder schrie Gideon laut auf.
Adelaide arbeitete, so schnell sie konnte. Als sie den Verband zweimal um Gideons Bauch geschlungen und befestigt hatte, brach sein Schrei abrupt ab. Er war ohnmächtig geworden. Im Stillen betete sie unaufhörlich, dass alles gut werden würde.
Als sie mit dem Verband fertig war und die beiden Männer Gideon wieder vorsichtig auf die Tischplatte zurücksinken ließen, hörte Adelaide wie durch einen dichten Nebel gedämpft polternde Schritte auf der Treppe. Unterdrückte Schreie. Doch sie hatte nicht mehr die Kraft, sich auf irgendetwas anderes als Gideon zu konzentrieren.
Sie hatten ihm gerade ein Kissen unter den Kopf gelegt und ihn zugedeckt, um ihn zu wärmen, als eine kleine Furie in den Raum schoss und gegen Adelaide stieß.
„Nein, Papa Gidyon. Nein!“